Internationale Turniere auf heimischem Boden sind für Athletinnen und Athleten aus der Schweiz nicht zuletzt deswegen wichtig, weil der Zugang zu ebenjenen ein leichterer ist als irgendwo sonst auf der Welt. Der Grund: Bei jedem dieser Turniere kann Swiss Tennis eine gewisse Anzahl Wildcards an seine Spielerinnen und Spieler vergeben – sei es fürs Hauptfeld oder für die Qualifikation. Von den Jüngsten (U12) bis zu den Profis erhalten so immer wieder Schweizer Talente die Chance, sich auf einem Level zu messen, das sie rein aufgrund ihrer bisher erzielten Resultate noch nicht erreicht hätten. Im Interview spricht Michael Lammer, Headcoach Nachwuchsförderung bei Swiss Tennis, unter anderem darüber, nach welchen Kriterien der Verband die Wildcards verteilt.
Michael Lammer, wer entscheidet bei Swiss Tennis über die Vergabe der Wildcards?
Das hängt davon ab, von welcher Stufe wir sprechen. Bei U12-Turnieren von Tennis Europe liegt die Entscheidungshoheit bei den Leitern der Überregionalkader von Swiss Tennis. Bei U14- und U16-Turniern von Tennis Europe, bei den U18-Turnieren der ITF Juniors Tour sowie bei den kleineren ITF-Turnieren der Profis habe ich das letzte Wort. Wenn es dann um die grösseren ITF-Turniere oder um jene auf Stufe ATP und WTA geht, entscheiden letztlich die Captains der Nationalteams. Wobei hier die Turniere selbst oft eigene Interessen verfolgen und uns nicht alle Wildcards zur Verfügung stellen. Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass bei Swiss Tennis Entscheidungen über Wildcards nie von einer Person allein getroffen werden. Dies geschieht stets in Absprache mit verschiedenen Beteiligten, wie etwa auch den Coaches oder dem Leiter der Abteilung Spitzensport.
Herrscht dabei immer gleich Einigkeit?
Sehr oft tatsächlich schon. Das hat ehrlicherweise auch damit zu tun, dass wir in der Schweiz nicht endlos viele Talente haben, die für eine Wildcard in Frage kämen. Dennoch diskutieren wir jeweils ausführlich, um möglichst alle Aspekte und Blickwinkel mit zu berücksichtigen.
Welche Kriterien entscheiden darüber, wer eine Wildcard erhält und wer nicht?
Natürlich spielen dabei die bereits erzielten Resultate und die sich daraus ergebende Klassierung einer Spielerin oder eines Spielers eine grosse Rolle und auch die Kaderzugehörigkeit eines Talents hat einen Einfluss. Weiter ist das Alter ein entscheidender Faktor. So versuchen wir etwa bei kleineren Turnieren der ITF Juniors Tour eher die 14- bis 16-Jährigen zu berücksichtigen als die 18-Jährigen. Die Idee ist es, ihnen erste Erfahrungen und im Idealfall auch erste Punkte auf diesem Level zu ermöglichen. Ein Spieler oder eine Spielerin im letzten Juniorenjahr sollte hingegen bereits einen Schritt weiter und bei solchen Turnieren bestenfalls gar nicht mehr auf eine Wildcard angewiesen sein. Ähnlich ist es bei den Profiturnieren, wo das Alter ebenfalls massgebend sein kann. Sind zum Beispiel zwei Spieler in der Weltrangliste mehr oder weniger gleichauf, profitiert eher der aufstrebende 19-jährige als der 27-jährige, der sich schon näher an den Grenzen seines Potenzials bewegt. Dabei gibt es aber immer auch Ausnahmen, etwa wenn eine Spielerin längere Zeit verletzt war, im Ranking zurückgefallen und nur deshalb überhaupt wieder auf eine Wildcard angewiesen ist. Allgemein gilt: Wir berücksichtigen bei der Vergabe in erster Linie die hier genannten harten Faktoren, analysieren aber immer auch die Umstände, unter denen sie entstanden sind, was wir stets transparent kommunizieren.
Ihr müsst oft auch Spieler:innen enttäuschen, die sich eine Wildcard erhofft hätten. Wie gehen diese damit um?
Meistens sehr gut. Wir versuchen ihnen immer auch zu vermitteln, dass es so etwas wie ein Recht auf eine Wildcard nicht gibt. Wer nur dank einer Wildcard an einem Turnier teilnehmen kann, hat sich ja faktisch auf regulärem Weg nicht dafür qualifiziert. Eine Wildcard ist also als Geschenk zu betrachten. Natürlich müssen wir manchmal auch knappe Entscheidungen treffen, wo es zwei oder mehrere Kandidat:innen gibt, die für eine Wildcard in Frage kämen. Und aus der Perspektive eines Athleten oder einer Athletin gibt es immer Gründe, warum er oder sie die Chance mehr verdient hätte. Letztlich entscheiden wir uns immer für und niemals gegen eine Spielerin oder einen Spieler. Aber ja, es gab auch schon Einzelfälle, in denen wir uns den Unmut eines nicht berücksichtigen Spielers haben anhören müssen. Damit müssen wir in unserem Job aber umgehen können.
Wie stellt ihr sicher, dass ihr niemanden überseht?
Hier profitieren wir tatsächlich davon, dass die Schweiz ein kleines Land ist. Wir können mit gutem Gewissen sagen, dass wir unsere grössten Talente früher oder später alle entdecken und kennen. Und auch eine Spielerin, die wir, aus welchen Gründen auch immer, gerade noch nicht auf dem Radar haben, hat zahlreiche Möglichkeiten sich bemerkbar zu machen. Wer keine Wildcard für ein Hauptfeld bekommt, kann ja beispielsweise den Weg über die Qualifikation eines Turnieres gehen. Glücklicherweise haben wir hierzulande mittlerweile, vor allem auf Stufe ITF, zahlreiche internationale Turniere. Was wir uns noch wünschen würden, wäre das eine oder andere ATP-Challenger- oder WTA-Turnier mehr auf Schweizer Boden.